Wie ALLES begann

Ein zeitlicher Abriss von Rudolf Priemer.

auch im Amtsblatt der Stadt Grimma (Juli 2021)

Das Jahr 1836 war die entscheidende Voraussetzung für die Entstehung der bekannten Gaststätte „Vogels Ballhaus“. In dem Jahr wurde die „Hohle“, der Hohlweg, eine Straße zwischen dem selbstständigen Ort Burgberg und Grimma zur „Chaussee“ ausgebaut und das geschaffen, was wir als die „B 107“ kennen. Für den Grimmaer Chausseebau gab es Fördermittel vom Finanzministerium und einen Zuschuss der Stadt Grimma. Da Wurzen bis 1818 ein Eigendasein als Stiftsland geführt hatte, gab es keine Straße zwischen den beiden „Muldenstädten“. Wir müssen uns die Chaussee als in der Mitte leicht aufgewölbte, baumbestandene Schotterstraße vorstellen, die durch Querschläge in gepflegte Straßengräben entwässert wurde. Für das Benutzen der ständig betreuten und unterhaltenen Chausseen wurde bis 1885 eine „Benutzungsgebühr“ erhoben. Dazu gab es an den Zu- und
Abfahrten Zettel, die an den nächsten Chaussee- oder Zollhäusern abzugeben und abzurechnen waren.

Eines davon wurde am Fuß des Hohnstädter Berges erbaut. Im turmartigen Gebäudeteil mit dem Mansarddach an der Straße von „Vogels Ballhaus“ haben wir es umgebaut vor uns. Die beiden ovalen Fenster zeugen davon,  sonst wären sie kaum zu erklären. Der Berg stellte dennoch ein Hindernis im sonst schon flachen Land dar, mitunter wird man ihn noch durch Vorspannen eines zweiten Pferdepaares überwunden haben. Die Talfahrt
war dafür risikoreicher. Nach und nach war der große Wandel eingetreten: die Wagen bekamen Eisenachsen und die Räder metallene Buchsen. Das ewige Schmieren, um die knarrend hörbare Reibung zwischen den Holzachsen und Radnaben zu vermindern, hörte damit auf.

Sachsen war bis in die 1870er Jahre das wirtschaftlich führende Land im werdenden deutschen Reich. Wie aus der Zollstelle die heutige Gaststätte wurde, ist im Detail unklar. Sicher war der Bergfuß eine Raststätte, an der Branntwein ausgeschenkt wurde. Es sollten nach einem Grimmaer Ratsbeschluss von 1804 nur Grimmaer Brauberechtigte auch Branntwein ausschenken, immerhin gab es 1826 in der Stadt konzessionierte 23 Branntweinbrenner. Der Tempelberg war allseitig gärtnerisch gestaltet und durch Wege erschlossen, man spazierte auch aus der Stadt in Richtung Rappenberg und kehrte gern in das Etablissement ein. Ein  anschauliches Bild aus dem späten 19. Jahrhundert vermittelt ein undatiertes Bild, aus der Zeit, da es schon keine Chausseegeldeinnahme mehr gab.

Der unbekannte Maler stellte vor allem die Längsfront des repräsentativen Gebäudekomplexes mit dem turmartigen Bau genau dar. Der Sauteich davor war schon gehoben, in Wiesen eingeteilt und von Wegen überquert. In der Wiesenstraße standen die Scheunen der Ackerbürger mit ihren hohen Mansarddächern. Am Ende des 19. Jh. hatten sich die Lebensumstände im Zuge eines allgemein gewachsenen
Wohlstandes grundsätzlich gebessert. In der Stadt Grimma gab es um 1900 rund 100 „Lokalitäten“, von denen jede ihre Gäste und die  meisten ihre Eigenheiten hatten.

In der 40-jährigen Friedenszeit hatte sich ein reges Vereinsleben gebildet, das sich in den Gaststätten abspielte. Es gab das Bedürfnis
nach einem sehr großen Saal für Bälle, Konzerte, Theateraufführungen, Vereinsfeste. Dem trug der sehr umsichtige Gastwirt Max Vogel Rechnung, indem er 1903 sein prächtiges Ballhaus eröffnete. Der große Saal hat beiderseits erhöhte „Seitenschiffe“, über der Bühne wurde ein höheres Dach aus Stahlbindern und mit Lüftern versehen und allem geschaffen, was für so einen großen wie vielfältigen
Betrieb nötig war. Der sehr anspruchsvoll historistisch gestaltete Saal war der größte Grimmas, in dem noch nach 1945 bis zu 900 Gäste Platz fanden. Zu den anspruchsvollsten Veranstaltungen gehörte vor dem I. Weltkrieg eine Aufführung des „Messias“ von G. F. Händel durch die Grimmaer Arbeiterchöre, die durch Leipziger Sängerinnen und Sänger verstärkt worden waren – die Aufführung lobte sogar die bürgerliche Presse der Stadt.

Nach dem I. Weltkrieg ging die glanzvollste Zeit zu Ende, die Gesellschaft zerfiel in Gruppen und Grüppchen, zu viele der Geselligen, Tätigen und Couragierten waren im Krieg getötet worden oder umgekommen. Das  Vereinswesen und die Geselligkeit erholten sich nach dem Krieg langsam. Die immer rührige „Gasthausdynastie Vogels Ballhaus“ stellte am 22.4.1921 den Antrag eine „Obstund Beerenwein – Kelterei“ einzurichten – am 29.
Juni war sie fertig und nutzte die Chance, das Anfallende dieser Ernte zu veredeln. 1933 wurde alles „gleichgeschaltet“ und stramm militarisiert, bald auch überwacht. Durch den II. Krieg kam alles
zum Erliegen.

Nach 1945 blühte Vogels Ballhaus durch den allgemeinen Kultur- und Geselligkeitshunger trotz der allgemeinen Misere noch einmal groß auf. Zunächst spielte die Wurzener „Freie Bühne“ hier, das Döbelner Theater kam bald danach. Es gab die legendäre Aufführung mit Heinz Rühmann als „Mustergatten“ in fünf ausverkauften Vorstellungen. Franz Lehars „Lustige Witwe“ war ein ähnlicher Erfolg, der von der Kulturabteilung der Leipziger SED am 14.12.1946 organisiert worden war. Es gab auch Versammlungen und Kundgebungen – aber die wirkten sich nicht positiv auf die immer größer werdenden Bau- und Finanzprobleme aus. Durch die Versorgungsmisere nach dem jüngsten, noch katastrophaleren Krieg ließen sich keine nötigen Reparaturen ausführen,  Modernisierungen ermöglichen und Hypotheken tilgen. Wieder und weiterhin wurde alles Mögliche im Saal eingelagert. Eleonora Hoffmann, die dritte in der Dynastie steuerte das Schiff von 1951 bis 2002 mit ihrem beneidenswerten Optimismus durch alle Klippen, als Kommissärin des Konsums vermietet. Die wieder aufkeimende Geselligkeit, die sie hegte, so gut es ging, war bald wieder eingeschränkt. Sie erhielt den nicht zu verkraftenden Hieb „Fernsehen“, das die Menschen zur Trägheit erzog. Die Freude am eigenen Spaß wurde auch durch die Politisierung verdorben. Man wusste nicht, wer die meist harmlosen Witze missverstand: Die ewig gehetzten Kraftfahrer trafen sich zur Mittagszeit zu ihrem immer heiteren „Runden Tische“. Die Stadt hatte in den letzten Jahrzehnten mit Paul Höhle einen Bürgermeister, der die Situation beherrschte: „Große Ereignisse“,
ganz gleich welcher Art, werden mit einigen der nötigsten Bauarbeiten vorbereitet. 1986 waren es in Grimma die Junioren-Radsport-Weltmeisterschaften. So kam in all den Jahren des verwalteten Mangels zusammen, was sonst nie zu vereinen ging: „Kapazitäten“(=Arbeitskräfte), Material und die nötige Kreditfinanzierung. Das Haus
wurde solide, mit dem obligatorischen Kratzputz abgeputzt, nicht optimistisch grau, sondern gelb eingefärbt und das Dach ausrepariert. Es war nicht möglich, Frau Hoffmann einzureden, auf den mehr als 70 Jahre alten Gasthausnamen zu verzichten – wie wortreich sich die Genossen auch bemühten. Warum eigentlich? Die  Kraftfahrer-Geselligkeit blieb auch nach 1990 erhalten, funktioniert mit dem Markenzeichen: preiswert-abwechslungsreiche Hausmannskost. Ein Markenzeichen: die Hausmachersülze nach bewährtem Rezept. Die Küche bietet, immer schmackhaft zubereitet, abwechslungsreiche „Hausmannskost“ an, die auch noch preiswert ist. Davon lebt das Haus bis heute mit seinen Stammgästen, zu denen manchmal ein paar „Zugvögel“ kommen, die von der Gaststätte gehört hatten. Familienfeiern und verschiedene „Gruppenzusammenkünfte“ finden ständig hier statt. Die Atmosphäre der Gaststube lädt dazu ein. Wenn die Feuerwehr zu einem Fest ein großes Festzelt aufbaut, gibt es alles, was damit zusammenhängt, dabei geht es zwar auch laut zu. Optimistisch stimmt
es, dass der Jüngste – der fünfte in der Reihe – Koch lernt. Nicht beim Vater Mario, sondern auswärts, „bei uns drüben, bei Würzburg“. Aus der Fülle der örtlichen Angebote ragt dieses heraus: das Hausgemachte, die Hausmannskost. Wenn man des Modischen überdrüssig ist, sucht man die Gasthofgeselligkeit wieder. Nicht alle Männer sitzen zufrieden vor einer Flasche Bier aus ihrem Keller, vielen fehlt die Unterhaltung – nicht nur über den Fußball. Eines vermissen alle: scheinbar gibt es keine Witze mehr. Dabei können wir völlig frei über alle
Politiker herziehen. Wehe aber; wenn sich einer über seinen Boss abfällig äußern würde – gleich ob
berechtig oder nicht!!

Mit der gegenüber liegenden „Italiener – Gaststätte“ hat der Wirt Mario keine Probleme: „Wir haben nicht nur verschiedene Öffnungszeiten, sondern auch sehr verschiedene Gäste!“